GRASNARBEN
Im Mai 2021 wurde ein Bücherstand mit feinster Literatur angezündet. 4000 Bücher verbrannten – ein Teil vollständig, ein anderer Teil wurde durch tagelangen Starkregen gelöscht. Daraus entstand das Kunstprojekt Grasnarben.
Material: Teile der über 4.000 verbrannten Bücher eines Bücherstandes, verkohltes Gestänge des Verkaufspavillons, über 1.600 Liter Erde, Tausende Grassamen, Asche der Tat als Dünger.
Audio: Lesung übrig gebliebener, verkohlter Buchseiten-Reste.
Video: Verbrannte Hecke hinter dem abgebrannten Bücherstand, lachende Nazis, die Bücher in Flammen schmeißen.
Grasnarben beschäftigt sich mit den Auswirkungen schrecklicher Taten und Tatenlosigkeiten. Beide Motivationen scheinen konträr, befinden sich aber in ihrer Gefährlichkeit für die Gesellschaft und das Miteinander auf einer Ebene. Eine Tat verletzt. Eine Tatenlosigkeit verleugnet.
In beiden Fällen entstehen Wunden und Narben. Narben sind Endzustand der Wundheilung – an diesen Stellen ist das Netzwerk der Haut nicht mehr komplex verflochten, sondern parallel angeordnet. Parallele Denkweisen und nicht komplexe Weltanschauungen sind Substrat für derartige Taten. Danach folgt immer der gleiche Prozess: Mahnungen werden gesät, Hoffnung keimt. Bis Gras über die Sache wächst.
Bevor Gras über etwas wachsen kann, muss der Nährboden für eine Tat bestellt werden. Dies funktioniert ganz einfach. Simple Denkstrukturen, Haltungen und Auffassungen führen zu simplen Handlungen, wie dem Anzünden eines Bücherstandes und der Verbrennung von 4.000 Büchern. So – mal wieder – geschehen im Mai 2021 in Frankfurt.
Nicht unbeachtet darf die Tatsache bleiben, dass die/der Täter/in das Gegenteil ihrer oder seiner Absicht erreicht hat/haben. 4.000 Bücher lesen, hat nicht den gleichen Lerneffekt, wie auf 4.000 verbrannte Bücher zu schauen. Schmerz, Zerstörung, Verlust sind notwendige Opfer, damit sich Denkprozesse verändern. Passanten, Kinder und Jugendliche standen fassungslos vor den Überresten des Bücherstandes, wie auch später Besucher vor der Installation Grasnarben.
Die Brisanz liegt in der Koinzidenz. Passierte die Feuertat doch fast genau auf den Jahrestag der Bücherverbrennung der Nazis vor 88 Jahren. Auf dem Gelände der Frankfurter Goethe-Universität. Die Bücherverbrennungen 1933 wurden vom Studentenbund initiiert. Warum lässt die Universität dieses Datum und das Geschehene tatenlos verstreichen? Steht man schockiert vor dem nicht nur Hände, sondern auch die Gedanken und den Mut schwärzenden Ascheberg, fragt man sich zwangsläufig, warum die Frankfurter Universität eigentlich so korrekt, so glatt, so sauber aussieht? Damit korrekte, glatte, saubere Menschen und Manager aus ihr erwachsen? Die sich dann wunderbar in ein homogenes, nicht aufbegehrendes, tatenloses Gefolge einordnen lassen? Die den Akt des Grasüberetwaswachsenlassens von der Pike auf gelernt haben? Eine stumpfe Pike im Kontext der für Lernprozesse notwendigen Pikse für eingeschlafene und simple Attitüden.
Als Grasnarbe wird der zusammenhängende Bewuchs des Bodens durch Gräser bezeichnet, der durch geschlossenen Pflanzenbestand und die Wurzeln einen festen Zusammenhalt bekommt. Die Wurzeln einer Tatenlosigkeit – ausgedrückt in der menschlichen Unart, Gras über Unangenehmes wachsen zu lassen – bestehen darin, unangenehme Ereignisse von der bewussten Wahrnehmung fernzuhalten. Fatalerweise funktioniert dieser Mechanismus sehr gut und jeder Mensch hat mindestens schon einmal Gras über etwas wachsen lassen. Erfolgreich ist dieses Prozedere jedoch nicht. Leugner sind Luegner. Lügen machen dauerhaft krank.
Auf der Suche danach, wann man den Ausdruck ‚Gras über etwas wachsen lassen‘ benutzt, findet man auf Wiktionary: „Bevor du Gitta wegen dem Flirt mit ihrem Mann um Verzeihung bittest, solltest Du erst etwas Gras über die Sache wachsen lassen.“ Das von der Vorgehensweise und auch grammatikalisch nicht ganz einwandfreie Beispiel ist exemplarisch für den Mechanismus der auf die Tat folgenden Tatenlosigkeit. Die Tat erreicht nicht annähernd die Ebene einer komplexen Denkweise, denn sonst hätte Gittas Freundin gar nicht mit dem Mann ihrer Freundin geflirtet. Der Prozess danach ist jedoch entscheidend. Schweigen, wegducken, Zeit vergehen lassen, darauf hoffen, dass das Unangenehme verschwindet, dass Gras darüber wächst.
Die Installation versteht sich als ein Zyklus in sich. Ein stetig wachsendes Mahnmal, das die durch den Brand entstandene Asche als Dünger nutzt. Die mit Regenwasser vollgesogenen Bücher spenden die notwendige Feuchtigkeit für das Wachstum. Am Ende ist nur noch alles überdeckendes und schweigendes Gras zu sehen. Die Bücher wirken, als lägen sie in ihrem eigenen Grab, ihrer letzten Ruhestätte. Die Beerdigung ist abgeschlossen, wenn die Grasnarben die Herrschaft über die verkohlten Bücherreste übernommen haben und nur noch Gras zu sehen ist. Selbst das übrig gebliebene, verkohlte und verzogene Gestänge des Verkaufspavillons ist ein Mahnmal für sich, das einem den Atem stocken lässt – mutet es doch wie die verlassene Baracke eines Straflagers an.
Die Fläche der Installation ist genau auf die Maße der Verkaufsfläche des ehemaligen Bücherstandes begrenzt. Das Gestänge scheint im ersten Moment Halt zu geben. Schon nach wenigen Sekunden spürt man jedoch die Halt-, Hilfs- und Tatenlosigkeit, die über die Grasnarben wehen. Am liebsten würde man sich zu den Bücherresten in das saftige Gras legen, sie umarmen und von ihnen umarmt werden. Was jedoch den Prozess der Verschleierung, des Vergessens und der Verdrängung zerstören würde. So macht man eben das, was alle machen: Abwarten, bis auch über dieses Thema niemand mehr redet, was soll man denn auch tun? Die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen erfordert geradezu diese Vorgehensweise.
Untermalt wird die Installation mit einer Lesung verschiedener, im Aschehaufen des Bücherstandes Stück für Stück handverlesener, verkohlter Buchfetzen. Das Geschriebene bekommt so eine neue Bedeutung. Dass es dabei um verkohlte Bücherreste geht, bekommt eine schreckliche Note, da man auch bei der Verbrennung von Menschen von verkohlten Überresten spricht. Buchfetzen, denen kein Buch mehr zuzuordnen waren, werden daher in der Audioinstallation, statt mit der Vorstellung des Titels, mit „Nicht mehr identifizierbar“ eingeleitet. An dieser Stelle darf das berühmte Heinrich-Heine-Zitat nicht fehlen: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
Befasst man sich nicht mit den Hintergründen, wirken die vorgelesenen Abschnitte komisch, teilweise sogar lustig. So werden am Ende jeden Abschnittes Lacher eingespielt. Auch das Gefolge, das in ihrer Hörigkeit für Nazis Bücher verbrannte, befasste sich nicht mit den Hintergründen ihrer Tat. So lachten sie sich fast (leider nicht ganz) tot, als sie haufenweise Bücher in die Scheiterhaufen warfen. Das Gefolge ist schlimmer als der Diktator.
Fragmentarisch und fast, wie am ursprünglichen Tatort unbemerkt, ist im Hintergrund ein Filmloop der angebrannten Hecke wahrzunehmen, die sich hinter dem vernichteten Bücherstand befand. Durch den heftigen Feuersturm flogen und stießen Buchseiten in die Hecke – es sieht aus, als wären sie dort fein säuberlich und bedacht drapiert. Im verbrannten Bücherstand und wie in jeder anderen Zerstörung kommt man nicht darum herum, Formen von Ästhetik zu erkennen. Die verbrannten Bücher, die durch Starkregen in der Feuernacht und den darauffolgenden Tagen teilweise gelöscht wurden, erhielten durch die Tat eine neue Schönheit und mit Grasnarben einen neuen Verwendungszweck. Die Buchtitel stellen neue Zusammenhänge her und wirken schon für sich wie einzelne Kunstwerke. Die Auslese in dem Bücher- und Ascheberg wurde zu einer bedrückenden, aber künstlerisch notwendigen Verrichtung. Um die Bücher vor der Stadtreinigung zu retten, wurden mehr als die Hälfte der verbrannten 4000 Bücher in den Ausstellungsraum gebracht. Die Berge der durchnässten, verkohlten und mit Asche überzogenen Werke, machten dort erneut sprachlos. Der Ruß kroch nicht nur dauerhaft unter die Fingernägel und auf die Wände, auch in jede Emotion und jeden Gedankengang.
Ein ständiger Begleiter der Installation ist somit auch der leicht moderige Geruch von Verbranntem und Feuchtem. Eine Passantin bemerkte, dass es so in verlassenen Häusern rieche. Es riecht vor allem nach vom Verstand verlassenen Menschen, die zu so einer Tat in der Lage sind. In Kombination mit der frischen Erde, der von den durchnässten Büchern abgegebenen Feuchtigkeit, und dem wachsenden, saftig grünen Gras, wird Grasnarben auch zu einem olfaktorischen Erlebnis – ein feu de toilette.
Im Gegensatz zur Tatenlosigkeit, zum innerlichen Zwang des Wegschauens, wird man in der Installation zum genauen Hinschauen gezwungen. Man bemerkt nicht nur die Kraft der Verdrängung, die Kraft der Grashalme, die sich unter Büchern hervordrücken und sogar teilweise aus den Büchern selbst herauswachsen, sondern verstummt bei Titeln, die in dieser Installation neue Bedeutungen erlangen. „Der vergiftete Garten“ von Fjodor Sologub, „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal, „Nicht gerettet“ von Peter Sloterdijk, „Die Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault oder „Der Ruf zur Tat“ von Julius Streicher und ein Notenblatt „Komm lieber Mai“ von Anne Geelhaar und Gertrud Zucker. Natürlich liegt auch Grass im Gras.
Die in Stufen eintretenden Emotionen im Prozess des Vergessens und Verleugnens (Gras über etwas wachsen lassen), übernahmen auch im künstlerischen Prozess der entstehenden Installation die Regie. Man sieht den durchwühlten, schmutzigen Boden, auf dem etwas passiert ist. Man wartet ab. Man hofft. Man weiß, dass das Aushalten und Vergehen von Zeit dazu gehört. Man sieht den ersten Grashalm sprießen, grinst, jubelt innerlich. Dann geht es ziemlich schnell, bis endlich Gras darüber gewachsen ist.
Eine befriedigende Erleichterung, die wohl auch Täter und Tatenlose spüren.